Yehuda Bauer (1926–2024) – ein großer Historiker hat uns verlassen
Yehuda Bauer wurde am 6. April 1926 als Martin Bauer in Prag geboren. Nach langen Vorbereitungen gelang es der Familie im März 1939 noch rechtzeitig aus dem nationalsozialistischen Machtbereich zu flüchten. Über Polen, Rumänien und die Türkei gelangten sie in das damalige britische Mandatsgebiet von Palästina, heute Israel. Dort absolvierte Yehuda Bauer die Schule, mit Hilfe eines Stipendiums konnte er in Cardiff, Wales, sein Geschichtsstudium absolvieren, das er an der Hebräischen Universität in Jerusalem abschloss, wo er später dann selbst lehrte. Seine Lehrtätigkeit führte ihn in der Folge auch an verschiedene Universitäten der USA.
Nationale Geschichtsverengung war Bauer stets fremd. Ausgehend von seinen umfassenden Sprachkenntnissen waren ihm Quellen und Fachliteratur der wesentlichen am Holocaust beteiligten Länder zugänglich. Damit erarbeitete er sich einen globalen Überblick, der ihm ein hohes Maß an Kontextualisierung sowie beeindruckenden Überblick über das Gesamtgeschehen ermöglichte. Schuldzuweisungen im Kontext der Holocaustinvolvierung einzelner Mitgliedsländer waren ihm fremd, Erkenntnis von Verantwortung und Mitverantwortung hingegen wichtig. Von 2006 bis 2009 war Yehuda Bauer Mitglied des Gründungsbeirats des Vienna Wiesenthal Institute for Holocaust Studies (VWI). Als Mitbegründer und zuletzt Ehrenvorsitzender der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) mit ihren heute bereits 35 Mitgliedsländern in Europa, Nord- und Südamerika, Asien und Australien betonte er stets, dass alle Länder sich ihrer Verstrickung in den Holocaust stellen und aus dieser Erkenntnis heraus zusammenarbeiten sollten, um die Geschichte ohne Rücksicht auf nationale Empfindlichkeiten aufzuarbeiten und besorgniserregende Tendenzen der Gegenwart zu bekämpfen. Bauer sah den Holocaust als präzedenzlos, aber warnte stets davor, dass er sich auch wiederholen könnte, also kein singuläres abgeschlossenes Verbrechen sei. Ein großes Anliegen war ihm die korrekte Geschichtsdarstellung, bis zuletzt setzte er auch im Rahmen der IHRA alles daran, wachsende, in vielen Ländern auch aus nationalistischen Motiven zu beobachtende Verharmlosungen und Verfälschungen in der Darstellung des Holocaust zu bekämpfen unter dem Grundsatz „protect the facts“.
Im Rahmen seiner akademischen Karriere und wissenschaftlichen Tätigkeit auch zuerst als Direktor, dann als Berater der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem war es Bauer stets ein Anliegen, der Holocaustforschung eine möglichst breite Basis zu geben, zB mit der Gründung der Zeitschrift Holocaust and Genocide Studies, und gleichzeitig die Ergebnisse seiner Forschungen auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Sein umfassendes Wissen beeindruckte immer wieder, so wenn er anlässlich der Eröffnung der Plenarsitzungen der IHRA, wo Wissenschafter*innen und Diplomat*innen der Mitgliedsländer um den großen Tisch saßen, seinen als „Yehuda’s sermon“ bekannten Vortrag immer zu ausgewählten Aspekten hielt, oft mit Gegenwartsbezug wie beispielsweise zu seiner Sicht auf die international um sich greifenden Trivialisierung des Holocaust.
Alle seine Verdienste ließen ihn jedoch nie abgehoben auftreten, ganz im Gegenteil: Yehuda Bauer war ein humorvoller, freundlicher, Kolleginnen und Kollegen gegenüber aufgeschlossener Mensch, mit dem zu sprechen stets interessant und eine Freude war.
Sein Tod ist ein großer Verlust für die Holocaustforschung und lässt alle jene, die die Ehre hatten, ihn persönlich zu kennen und mit ihm zusammen zu arbeiten, in Trauer zurück.
Brigitte Bailer
Ehemalige Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes
Mitglied der Generalversammlung des VWI
Langejähriges Mitglied der österreichischen Delegation zur IHRA
Foto: Heinrich-Böll-Stiftung, Stephan Röhl; CC BY-SA 2.0